Amsale Mulugeta (79) führt ein Leben, das sich durch Hingabe und durch die tiefe Entschlossenheit auszeichnet, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Heute lebt die Doppelbürgerin in zwei Welten: In der Schweiz bei ihrer Familie und in ihrem Heimatland Äthiopien.
Amsale Mulugeta durfte als Kind die Schule besuchen. Vor rund siebzig Jahren war das in Äthiopien ein Privileg, das nur wenige Mädchen kannten. Ihr Vater, der selbst an einer Schule arbeitete, hatte grosse Hoffnungen für ihre Zukunft: «Eines Tages wirst du im Bildungsministerium arbeiten und all denen helfen, die es brauchen», sagte er einst zu ihr. Diese Worte prägen Amsale Mulugeta bis heute.
Ihre Ausbildung eröffnete ihr ein Leben in Sicherheit und Unabhängigkeit – ein Geschenk, das sie weitergeben will: «Die äthiopische Gesellschaft hat mir meine Ausbildung ermöglicht. Jetzt will ich etwas beitragen, um das Leben derjenigen zu verbessern, die weniger Glück haben.»

Nach ihrem Studium in Sozialarbeit und Gemeindeentwicklung sowie ersten Berufserfahrungen in Äthiopien, führte Amsale Mulugeta ein erfolgreiches Berufsleben in der Schweiz: Sie war über 25 Jahre in der Internationalen Zusammenarbeit tätig. Ein Schwerpunkte ihrer Arbeit war der interkulturelle Bereich. Später wurde sie Programmverantwortliche für das Horn von Afrika und dann spezifisch für Äthiopien.
Zusammen mit ihrem Ehemann, mit dem sie in die Schweiz gekommen war, gründete sie vor vielen Jahren eine Familie. Sie ist Mutter von drei Kindern und inzwischen Grossmutter von drei Enkelkindern.
Als Programmverantwortliche in der Internationalen Zusammenarbeit reiste Amsale Mulugeta regelmässig in ihre Heimat, vor allem in die ländlichen Gebiete Äthiopiens. Dort sah sie hautnah, wie schwierig die Lebensbedingungen für viele Menschen sind: «Damals habe ich mir geschworen: Ich muss dranbleiben!» Dieser Entschluss war der Beginn eines bedeutsamen Lebenswerks.

Im Jahr 2007 verlegte die Doppelbürgerin ihren Lebensmittelpunkt zurück nach Äthiopien – mit einem klaren Ziel vor Augen: Bildung und Perspektiven für benachteiligte Jugendliche und Frauen schaffen. Amsale Mulugeta gründete die NonProfitOrganisation Education for Sustainable Development (ESD), eine Initiative, die Bildung, Frauenförderung, Umweltschutz und die Entwicklung von Gemeinschaften ins Zentrum ihrer Arbeit stellt.
In Äthiopien sind jährlich vier bis fünf Millionen junge Menschen auf der Suche nach Arbeit. Um dem entgegenzuwirken, ermöglicht ESD Jugendlichen eine praxisorientierte Berufsbildung, die vom Schweizer Modell inspiriert ist: 70 Prozent praktische und 30 Prozent theoretische Ausbildung. Die Ausbildungsprogramme dauern je nach Beruf drei bis neun Monate. Jährlich erhalten so rund 3000 junge Menschen durch eine Berufsausbildung die Chance, aus der Armutsspirale auszubrechen.

Eines der Vorzeigeprojekte von ESD ist das gemeinsam mit Solafrica initiierte Projekt Solar Learning Äthiopien, das in den letzten fünf Jahren bereits 500 Jugendliche zu Solarfachkräften ausgebildet hat. «Äthiopien wird oft als ‹Land mit 13 Monaten Sonnenschein› bezeichnet», erzählt Amsale Mulugeta, «Doch die Sonne wird noch zu wenig genutzt.» Das soll sich ändern.
In der nächsten Phase des Projekts werden innert drei Jahren weitere 300 arbeitslose Jugendliche und junge Erwachsene in Solartechnik und Kleinunternehmertum ausgebildet. Während der praktischen Ausbildung installieren die Auszubildenden Solaranlagen auf acht Berufsschulen und acht öffentlichen Krankenhäusern. «Die Menschen sehen durch die Installationen, wie gut Solarenergie funktioniert, und die Jugendlichen lernen einen Beruf, der ihnen eine Perspektive bietet», sagt die Gründerin von ESD.
Die Absolvent:innen ermöglichen anschliessend rund 30 000 Menschen in ländlichen Gebieten Zugang zu Energie. Amsale Mulugeta sagt mit einem Lächeln: «Ich bin immer begeistert, wenn ich jungen Menschen zusehe, wie sie Solarpanels installieren. Für mich kann es keine bessere Motivation geben, als Menschen in der Dunkelheit Licht zu ermöglichen.»

Für Amsale Mulugeta ist ihre Arbeit weit mehr als ein Beruf – sie beschreibt ihre Non Profit Organisation liebevoll als ihr «viertes Kind». Mit Projekten wie Solar Learning Äthiopien und ihrem unermüdlichen Einsatz für Bildung, Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit hat sie ihrer Vision Gestalt verliehen: Sie hat das Leben unzähliger Menschen in Äthiopien verändert und Hoffnung gesät. Das Vermächtnis, das sie mit ihrer Arbeit erschafft, wird noch lange nachwirken und Generationen inspirieren.
«Ich möchte Veränderungen sehen – in den Kindern, den Jugendlichen, den Müttern und der Gesellschaft», sagt Amsale Mulugeta eindringlich. «Das ist mein Ziel.»
